Theorie

Zum Stellenwert von Theorie in diesem Forschungsvorhaben

Da ich in der Arbeit einen qualitativen Forschungsansatz verfolge (näheres dazu siehe „Forschungsdesign“), dienen die theoretischen Konzepte, die hier vorgestellt werden sollen, nicht dazu, ein fertiges Vorverständnis vom Gegenstand der Arbeit zu generieren. Vielmehr handelt es sich um klar definierte Begriffe, die sich bei der Forschungsarbeit im Feld und anschlieĂŸenden Analysen als nĂ¼tzlich erwiesen haben, z.B. um das Beobachtete sprachlich fassen zu können und sinnvolle Deutungsansätze fĂ¼r die Ausgangsfrage zu finden. Die Arbeit ist also nicht theoretisch geleitet, sondern hinsichtlich bestimmter Aspekte des Feldes theoretisch sensibilisiert (vgl. Strauss/Corbin 1996).
Solche sensibilisierenden Konzepte unterliegen zwei Grundannahmen. Sie…
  • stellen keine Abbildung von Wirklichkeit dar, sondern lediglich spezifische Perspektiven auf einen Sachverhalt und sie
  • haben stets einen relativen und vorläufigen Charakter (vgl. Flick 2007).
Durch diese Grundannahmen soll gewährleistet sein, dass die theoretische Fassung meiner Arbeit nicht die "Oberhand" Ă¼ber das Material gewinnt, sondern angesichts des gewonnen Datenmaterials flexibel gehandhabt werden kann. Dies soll am Ende zu gegenstandsbegrĂ¼ndeten Ergebnissen fĂ¼hren. Dort, wo theoretische Konzepte nicht mehr greifen, werden sie angepasst oder verworfen – das Material hat immer recht.
Die folgenden theoretischen BezĂ¼ge wurden auf Grundlage erster empirischer Auseinandersetzungen mit dem Feld gewählt. Ziel dieses theoretischen Rahmens ist es, Prozesse und Aspekte der Wechselwirkung von Raum und interreligiöser Interaktion mit Hilfe von ausgewählten Begriffen und Konzepten theoretisch zu fĂ¼llen.


Vom "Dialog" zur "Interaktion"

Der diskursträchtige Begriff des Religionsdialogs erfuhr in Deutschland nicht zuletzt vor dem Hintergrund steigender öffentlicher Aufmerksamkeit von Religion im Allgemeinen und religiöser Pluralität im Besonderen zunehmende Beachtung. Durch die weitreichende Verwendung des Begriffs mit Bezug auf zahlreiche Formen und Dimensionen sowie verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen gestaltet sich seine Ăœbernahme als Konzeptbegriff schwierig. 
Ich spreche deshalb in dieser Untersuchung spezifischer von interreligiöser Interaktion. Hierzu greife ich auf Erving Goffmans Interaktionsbegriff zurĂ¼ck, der darunter soziale Gelegenheiten versteht, die er als zeitlich und räumlich begrenzte Wahrnehmungseinheiten charakterisiert, in denen direkte (verbale und nonverbale) soziale Kommunikation zwischen mindestens zwei anwesenden Personen stattfindet. Rund um diese face-to-face-Situationen hat Goffman ein theoretisches Begriffsrepertoire entwickelt, dessen zentrale Konzepte ich im Folgenden kurz zusammenfasse.

Ein wichtiger Begriff in Goffmans Repertoire ist der des Rahmens (frame). Unter dem Begriff Rahmen fasst Goffman alle Elemente zusammen, die von den Beteiligten einer sozialen Gelegenheit herangezogen werden, um die Situation und ihre Beteiligung daran zu definieren. FĂ¼r die Bezeichnung dieser Elemente fĂ¼hrt er eine Theater-Metapher ein. Als Schauspiel gedeutet, setzt sich eine soziale Situation aus Darstellern und Zuschauern zusammen, wobei jeder an einer Interaktion Beteiligte in der Regel beide Funktionen erfĂ¼llen muss. Zentral bei diesem Ansatz ist der Begriff der Darstellung (performance), unter den Goffman das Gesamtverhalten subsumiert, welches von einem Darsteller vor Zuschauern an den Tag gelegt wird. Folgendes Schaubild soll die Zusammenhänge der Darstellung verdeutlichen:

Rolle, Darstellung und Fassade nach Goffman 2011, eigene Darstellung

Den grĂ¶ĂŸten Einfluss auf die Darstellung eines Akteurs hat die Rolle (part), die der Darsteller in der sozialen Situation einnimmt. Rolle versteht Goffman als ein standardisiertes Muster von Handlungen, welches in der Darstellung, genauer gesagt in der Fassade (front), einem Bestandteil der Darstellung, zum Ausdruck kommt. Neben dem standardisierten Verhalten rechnet Goffman der Fassade die äuĂŸere Erscheinung des Darstellers zu, die beispielsweise Auskunft Ă¼ber seinen sozialen Status gibt. Der soziale Status betrifft dabei weniger ökonomische Aspekte, sondern vielmehr den Berufsstand bzw. besondere Fähigkeiten oder Kenntnisse, die dem Akteur in der Interaktionssituation eine besondere Bedeutung geben können. SchlieĂŸlich ist die Darstellung auch verknĂ¼pft mit dem materiellen Umfeld der Situation. Hierbei geht Goffman seiner Theater-Metapher entsprechend von einer BĂ¼hne (stage) aus, auf der Requisiten (props) zur VerfĂ¼gung stehen und zum Zwecke der Darstellung genutzt werden können.
Neben der Theater-Metapher erklärt Goffman die Strukturen von Interaktionen vor dem Hintergrund einer rituellen Interaktionsordnung (interaction order), die jeder sozialen Situation zu Grunde liegt. Bei der Interaktionsordnung handelt es sich um ein angenommenes Regelwerk, dem die Beteiligten sich bewusst oder unbewusst in jedem Fall aber kooperativ in der Interaktion verpflichten. Goffman geht davon aus, dass jeder Akteur in der Interaktion bewusst oder unbewusst eine bestimmte Verhaltensstrategie verfolgt, welche ein Zusammenspiel verbaler und nonverbaler Handlungen umfasst. Strategie meint hier den oftmals intuitiven Wunsch, sich durch die eigene Darstellung möglichst gut vor anderen zu präsentieren. Auf Grundlage seiner Darbietung generiert sich der Akteur ein Image, welches Goffman als Selbstbild versteht und sozial anerkannte Eigenschaften vereinigt. Gleichzeitig steht dieses Selbstbild, wie folgende Abbildung verdeutlicht, in Abhängigkeit zur Reaktion der anderen Anwesenden:

Image im Interaktionsgeflecht nach Goffman 1986, eigene Darstellung

Der Darsteller entwickelt das eigene Image im Zuge seiner Darstellung. Spontane positive Reaktionen des Zuschauers auf dieses Image haben zur Folge, dass die Verhaltensstrategie bestätigt gesehen wird. Hat der Darsteller sich auf diese Weise ein Image erworben, versucht er es durch ein konsistentes Verhalten aufrechtzuerhalten. Die Tatsache, dass in der sozialen Situation jeder Akteur gleichzeitig in der Doppelfunktion des Darstellers und Zuschauers ist, hat eine wechselseitige Abhängigkeit der Interagierenden zur Folge. Dies hängt damit zusammen, dass das Image erst durch die Anerkennung der Zuschauer fĂ¼r den Darsteller Bedeutung erlangt. Diese wechselseitige Abhängigkeit bewirkt in der Regel einen Zustand gegenseitiger Anerkennung, den Goffman als eines der grundlegenden Strukturmerkmale direkter sozialer Interaktion betrachtet (vgl. Goffman 1986; 1996; 2009; 2011).


Religionsbegriff und das Attribut "interreligiös"

Religion wird in dieser Arbeit unter RĂ¼ckgriff auf Riesebrodt als „empirisch gegebenes Handlungssystem" (Riesebrodt 2007, 109) verstanden, das sich von anderen gesellschaftlichen Handlungssystemen, wie beispielsweise Politik oder Kultur, aufgrund der Qualität der Praktiken unterscheiden lässt (vgl. Riesebrodt 2007). Eine Interaktion ist in dem Sinne als interreligiös zu verstehen, als dass an ihr mindestens zwei Personen beteiligt sind, die sich als Vertreter oder zumindest Angehörige unterschiedlicher religiöser Traditionen verstehen und qua dieses sozialen Status‘ an der Situation partzipieren.


Der Begriff des "Raums"

Der „Raum“ hat, so der gängige Tenor in der Fachliteratur, als Untersuchungsgegenstand innerhalb sozial- und kulturwissenschaftlicher Forschung lange Zeit eine eher randständige Position eingenommen. Dabei standen sich, wie Löw et al. rekonstruieren, hinsichtlich seiner theoretischen Konzeption vor allem zwei Grundpositionen gegenĂ¼ber, die den Raum einerseits als absolut und andererseits als relativ postulierten. Während mit dem aus der Physik stammenden absoluten Raumbegriff von einer festen unveränderlichen Struktur des Raumes ausgegangen wird, die lediglich einen Kontext sozialer Handlungen bereitstellt, beschreibt der relative Raumbegriff einen erst in der sozialen Handlung produzierten Raum.
In Weiterentwicklung des relativen Raumbegriffs spricht Löw, deren Raumdefinition fĂ¼r die vorliegende Arbeit besonders nĂ¼tzlich erscheint, vom relationalen Raum. Dieser fungiert eben nicht wie ein Container, in dem sich eine völlig unabhängige Handlung vollziehen kann. Er wird vielmehr durch soziale Handlungen generiert und trägt gleichzeitig zur Strukturierung der Handlungen bei. Dieses dialektische Verhältnis von Struktur und Handeln kommt in Löws Definition von Raum zum Ausdruck:

„Raum ist eine relationale (An)Ordnung sozialer GĂ¼ter 
und Menschen (Lebewesen) an Orten.“ (Löw 2012, 224)

Die besondere Schreibweise des Begriffs (An)Ordnung weist sowohl auf einen Handlungs- als auch einen Strukturbezug hin. Dies lässt sich wie folgt veranschaulichen:

relationale (An)Ordnung nach Löw 2012, eigene Darstellung

Anordnung im Sinne einer Handlung umfasst nach Löw zwei raumschaffende Prozesse. Zum einen wird Raum durch die bedeutungsvolle Platzierung von Gegenständen und die Positionierung von Körpern generiert. Diesen Prozess nennt sie spacing. Erst aber im Zuge des zweiten Prozesses, der menschlichen Syntheseleistung, wird der Raum, d.h. alle seine Elemente zu einem Gesamtbild im Denken zusammengefĂ¼gt. Zu den Raumelementen zählt Löw zum einen Menschen (bzw. auch andere Lebewesen, wie beispielweise Tiere in einem Streichelzoo) und zum anderen soziale GĂ¼ter. Letzteres sind materielle Gegenstände, die mit symbolischer Intention platziert, also mit Bedeutung jenseits ihres materiellen Charakters aufgeladen werden können (z.B. ein Tisch als Altar).
Der Begriff der Ordnung stellt hingegen die strukturellen Raumaspekte in den Vordergrund. Diese umfasst die Regeln und Ressourcen, die die raumschaffenden Prozesse leiten und fĂ¼r diese zur VerfĂ¼gung stehen. Anders gesagt: die Ordnung bestimmt sozusagen die verfĂ¼gbaren Mittel und Grenzen der Handlungsmöglichkeiten.
SchlieĂŸlich gibt Löw mit Ihrer relationalen Definition von Raum auch einen Hinweis auf das Verhältnis der Begriffe Raum und Ort. Während "Ort" einen einmaligen geografischen Fixpunkt beschreibt, umfasst "Raum" das, was an Orten durch soziale Handlung und unter den an ihm gegebenen strukturellen Bedingungen entsteht (vgl. Löw et al. 2008 und Löw 2001).



Literaturgrundlage

Goffman, Erving (2011) Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. MĂ¼nchen.

Goffman, Erving (2009) Interaktion im öffentlichen Raum. Frankfurt und New York.

Goffman, Erving (1996) Rahmen-Analyse. Ein Versuch Ă¼ber die Organisation von Alltagserfahrungen. Frankfurt am Main.

Goffman, Erving (1986) Techniken der Imagepflege. Eine Analyse ritueller Ele-mente in sozialer Interaktion. In: Goffman, Erving (Hrsg.) Interaktionsrituale. Ăœber Verhalten in direkter Kommunikation. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. S. 10-53.

Löw, M. (2012) Raumsoziologie. Frankfurt am Main.

Löw, Martina, Silke Steets & Sergej Stoetzer (2008) EinfĂ¼hrung in die Stadt- und Raumsoziologie. Opladen u.a.